Der alte Mann und der Skorpion
In Indien lebte einmal ein alter Mann, dessen Gewohnheit es war, jeden Tag zu früher Stunde unter einem großen Baum am Ufer des Ganges zu meditieren. Eines Morgens, als der Mann seine Meditation beendet hatte und die Augen aufschlug, sah er einen Skorpion hilflos in der Strömung treiben. Als der Skorpion in die Nähe des Baumes gelangt war, verfing er sich in dem weit in den Strom reichenden Wurzelwerk. Der Skorpion kämpfte wie besessen, um sich zu befreien. Aber je heftiger er sich hin und her warf, desto aussichtsloser verstrickte er sich im Wurzelgewirr. Als der alte Mann die verzweifelten Befreiungsversuche des Tieres sah, legte er sich in seiner ganzen Länge auf eine in das Wasser reichende dicke Wurzel und griff mit ausgestreckter Hand nach dem zappelnden Skorpion, um ihn zu retten. Doch kaum hatte er ihn berührt, stach das Tier plötzlich zu. Instinktiv zog der alte Mann die Hand zurück. Aber nachdem er die Balance wieder gefunden hatte, streckte er noch einmal die Hand aus, um dem um sein Leben kämpfenden Skorpion zu helfen. Und wieder stach der Skorpion zu, sobald ihn der alte Mann zu fassen versuchte. So ging es fort, bis die Hände des alten Mannes durch die Stiche des giftigen Schwanzstachels anschwollen und bluteten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht beobachtete er den immer noch im Wasser um sich schlagenden Skorpion. In diesem Moment kam ein Wanderer des Wegs, sah den auf der Baumwurzel ausgestreckt liegenden und mit dem Skorpion kämpfenden alten Mann und rief ihm erstaunt zu: „He, Alter! Was ist mit dir? Nur ein Dummkopf riskiert sein Leben für ein hässliches, nutzloses Geschöpf. Du weißt wohl nicht, dass es dich das Leben kosten kann, wenn du meinst, diese undankbare Kreatur retten zu müssen?“ Der alte Mann hob bedächtig den Kopf, blickte dem Fremden ruhig in die Augen und erwiderte: „Mein Freund, sollte ich wegen der Natur des Skorpions, zu stechen, meine eigene Natur, zu retten, aufgeben?“