"Hören können, was der Andere im Herzen denkt"
„Es war einmal ein Vater, der hatte zwei Söhne. Der ältere Sohn war stolz und eingebildet. Er hielt sich selbst für schön und klug und schaute auf seinen Bruder nur voller Verachtung herunter. Dieser aber war freundlich und wurde von jedermann gerne gesehen. Nun hatte der Vater aber ein hübsches Kästchen, mit dem es eine besondere Bewandtnis hatte. Es besaß wohl einen Deckel und ein Schlüsselloch, ließ sich aber weder mit einem Schlüssel noch sonst irgendwie öffnen. Der jüngere Sohn nahm es oft in die Hand, denn es gefiel ihm über die Maßen – aber traurig stellte er es stets wieder an seinen Platz, denn auch er kannte das Geheimnis des Kästchens nicht. Eines Tages geschah es, dass der Vater ganz plötzlich starb. Da sprach der ältere Sohn zu seinem Bruder: „Haus und Geld gehören natürlich mir, denn ich bin der Erbe – Du kannst ja das Kästchen nehmen. Damit bist Du gut bedient, mehr steht Dir nicht zu.“ Der jüngere Bruder nahm das Kästchen, packte sein Bündel und verließ das Vaterhaus. Er war schon ein gut Stück Wegs gegangen, da wurde er müde. Er streckte sich im Schatten eines Baumes aus, legte sein Kästchen unter den Kopf und war bald eingeschlafen. Da hatte er einen sonderbaren Traum. Es träumte ihm, sein Vater stünde neben ihm und zeigte auf das Kästchen. Dabei sprach er langsam das Wort „Herzmelodie“. Dann war er verschwunden und der Sohn erwachte. „Ei“, dachte er, „das war aber ein seltsamer Traum.“ Er nahm das Kästchen in die Hand und schaute es lange nachdenklich an. Dabei murmelte er das seltsame Wort, das der Vater gesagt hatte, vor sich hin: „Herzmelodie“. Und siehe da, der Deckel hob sich wie von Zauberhand und das Kästchen sprang auf. Darin aber lag eine kleine Flöte. Der Junge schaute ein wenig ratlos auf das winzige Instrument. Gleichzeitig vernahm er eine leise Stimme: „Ach, wäre ich doch nicht gar so hinfällig. Wie soll ich mir mein Brot verdienen? Ich kann doch kaum noch auf den Füßen stehen. Die Arbeit wird mir zu schwer. Ach, ich armer Mann, was soll aus mir noch werden?“ Der Junge schaute sich um. Wer hatte da gesprochen? Er bemerkte einen alten Mann, der mit einer schweren Last auf dem Rücken traurig und gebückt des Weges kam. Aber sonderbar – der Mann sprach gar nicht. Sein Mund war fest verschlossen und es war auch niemand da, mit dem er hätte sprechen können. Dem Jungen tat der Alte leid. Er nahm ohne viel Nachdenken die Flöte aus dem Kästchen, setzte sie an den Mund und sogleich konnte er darauf blasen. Die Töne formten sich zu einer Melodie. Die klang gar wundersam und tröstlich, sodass der alte Mann näher kam, stehen blieb und plötzlich lächelte. Und zu seinem Erstaunen hörte der Junge wieder die Stimme von vorhin: „Wie schön heute die Sonne scheint und wie sie mir so gut den Rücken wärmt. Ach, mir wird so leicht und froh ums Herz. Und zu Hause wartet schon meine liebe Frau auf mich. Wie gut meint es der liebe Gott doch mit mir, dass ich in meinem Alter noch auf meinen beiden Füßen stehen und herumlaufen kann. Und wieder bewegte der Mann nicht die Lippen. Da merkte der Junge, dass er hören konnte, was der Alte in seinem Herzen dachte. Und so geschah es ihm überall auf seinem Weg durch die Welt. Wenn er das Zauberwort sprach, öffnete sich das Kästchen und er konnte die Sprache der Menschenherzen verstehen. Und mit seiner Flöte konnte er Böses in Gutes verwandeln und Traurigkeit und Kummer vertreiben. Da wurde er selbst ganz fröhlich. Die Menschen wurden seine Freunde und sein Leben wurde reich und glücklich.“